Wie in jedem Jahr gedenken wir mit einem Gottesdienst und einer politischen Ansprache den Opfern von Krieg und Gewalt am Denkmal an der Nikomedeskirche.
Meine Rede in diesem Jahr lautete folgendermaßen:
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
heute ist wieder so ein Tag, an dem wir ungläubig vor dem Drama der Geschichte stehen. Unschuldige Menschen gaben ihr Leben – vor 80 Jahren und tun dies heute noch.
Mit dieser Feierstunde gedenken wir den Gefallenen in den Weltkriegen aus Weilheim und der ganzen Welt. Wir gedenken den militärischen und zivilen Opfern von Gewalt in der Ukraine, im Gazastreifen und Westjordanland, im Kongo und in den viel zu vielen bewaffneten Konflikten auf dieser Erde.
Sie sind nicht vergessen.
Warum geben diese Menschen nochmal ihr Leben? Für Großmachtsfantasien einer kleinen herrschenden Gruppe von Politikern? Als Zeichen der Überlegenheit und des Hasses gegenüber einer anderen Bevölkerungsgruppe? Aus Angst, selbst zu leiden, wenn man sich am Töten nicht beteiligt? Aus Verzweiflung wegen der eigenen Notlage?
„Wie konnte es soweit kommen?“ Diese Frage hat die Nachkriegsgeneration nach den Weltkriegen in Deutschland stark beschäftigt. Hätten wir nicht die Möglichkeit gehabt, früher einzugreifen, dem Töten vorzubeugen?
1933 kam Hitler per Wahl an die Macht. Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich für ihn als Regierungschef entschieden. Ein Mann der klaren Worte, der charismatischen Rede, ein Mann der Tat. Ihm hat man zugetraut, die Wirtschaft auf Vordermann zu bringen. Er sollte Ordnung in das politische Chaos bringen. Und es wurde als richtig angesehen, die scheinbar Schuldigen zu bestrafen.
Hätten wir nicht früher eingreifen sollen?
Im Rückblick ist es uns klar. Ja. Wir hätten früher eingreifen sollen. Wenn man allerdings die Zukunft noch nicht kennt, ist diese Frage nie klar zu beantworten. Wie kann ich heute durch meine Tat, mögliche schlimme Ereignisse in der Zukunft unterbinden? Sind überhaupt schlimme Ereignisse zu erwarten? Und wer sagt am Ende „diese Entwicklung war schlimm“.
Historische Vergleiche gehen in der Politik nie gut aus. Deswegen sage ich an diesem Punkt sehr deutlich: ich ziehe keine Parallelen von aktuellen Entwicklungen zur Zeit der NS-Herrschaft in Deutschland.
Ich beobachte lediglich die politische Situation in Deutschland, in den USA, in Ungarn, in Frankreich.
In drei Bundesländern schenken jeweils ein Drittel der Stimmberechtigten der AFD ihr Vertrauen. Einer Partei, die Geflüchtete aus dem Land schaffen will, die Bemühungen Frauen die gleichen Rechte zu geben wie Männern lächerlich findet und die neue Atomkraftwerke bauen möchte.
In den USA wird ein verurteilter Straftäter Präsident, der Diktatoren vorbildhaft findet und seine Wirtschaft über Einfuhrzölle schützen möchte.
In Ungarn und Frankreich gibt es starke Kräfte, die das Friedensprojekt Europa nicht mehr als Staatsziel sehen, die an demokratischen Grundstrukturen rütteln, um die eigene Machtposition zu stärken und für die nicht alle Menschen gleich sind.
Ist jetzt die Zeit einzugreifen, um schlimme Ereignisse in der Zukunft zu verhindern? Das wissen wir nicht. Allerdings mache ich mir Sorgen um die Zukunft von uns und die unserer Kinder. Und am meisten macht mir Sorgen, dass viele Menschen sich entweder von der Politik abwenden oder bei ihrer Stimmabgabe den einfachen Antworten folgen. Der Blick und das Verantwortungsgefühl für das große Ganze geht verloren. Zu oft setzt sich der Wille nach individuellem Protest durch. Denen da oben mal so richtig einen Denkzettel verpassen. Das scheint für viele die richtige Einstellung bei ihrer politischen Stimmabgabe. Jede und jeder haben das Recht dazu. Das ist Demokratie. Als politisch Verantwortliche ist es dann allerdings manchmal nicht ganz einfach, Demokratie auszuhalten. Und manchmal fehlt auch die übergeordnete Idee, wo es hingehen soll. Mitunter werden große Ideen als ideologisch abgestempelt und verachtet.
An einem Tag wie heute, mache ich mir Sorgen um unsere Demokratie. Ich mache mir Sorgen, dass wir den Zeitpunkt verpassen, einzugreifen. Hier wachsam zu sein und zu bleiben sind wir den Opfern politischer Gewalt schuldig.
Zum Gedenken und als Mahnmal liegt hier der Kranz der Universitätsstadt Tübingen und der Ortschaft Weilheim an der Gedenktafel.